Für Generationen von Deutschen war Otto von Bismarck ein Inbegriff von Sicherheit und Stabilität. Als »eiserner Kanzler« stand er für deutsche »Größe« und preußische Staatsräson. Heute, fast 200 Jahre nach seiner Geburt am 1. April 1815, hält er keine beruhigenden Botschaften mehr für uns bereit – und das nicht nur, weil seine kriegerische Reichseinigungspolitik der Jahre 1864 bis 1871 kaum mehr vorbildhaft erscheinen kann nach den Verheerungen des 20. Jahrhunderts. Das Bild, das die historische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten von ihm gezeichnet hat, ist schlicht zu differenziert, als dass wir ihn noch verklären könnten. Wer war der Mann, der die Deutschen derart in seinen Bann schlug? Der, seinem König treu ergeben, über das Parlament hinwegregierte? Der seine »Feinde«, Katholiken und Sozialdemokraten, erbarmungslos verfolgte und zugleich den modernen Sozialstaat schuf? Der sich, nachdem er drei Kriege angezettelt hatte, als Politiker des Ausgleichs inszenierte?
Einen »weißen Revolutionär« nannte ihn sein Biograf Lothar Gall, um seine tiefe Ambivalenz zu beschreiben. Für andere ist er »Dämon« oder »Genius«. Doch Bismarck lässt sich, wie die Autorinnen und Autoren dieses Heftes zeigen, nicht auf ein schlichtes Gut oder Böse reduzieren. Ja, er war ein Konservativer – aber er reagierte gewandt auf seine sich rasant wandelnde Zeit. Ja, er war mitunter ein »Mann ohne Grundsätze« – aber was wurde nicht schon alles im Namen hehrer Ideale verbrochen. Und ja, er war ein Reaktionär – aber einer, der Reformen vorantrieb, wenn sie ihm nützlich schienen. Der »eiserne Kanzler« war also keineswegs eisern; er war beweglich, »flexibel«, wie man heute sagen würde, ein Realpolitiker modernen, europäischen Typs und damit weit mehr als nur ein deutsches Phänomen in der Geschichte des 19. Jahrhunderts.
Sie können ZEIT GESCHICHTE auch im Klassensatz bestellen und von den günstigen Rabatten von bis zu 50 % profitieren.