Karl Marx’ berühmter Satz, dass Religion das Opium des Volkes sei, wirkt heute seltsam fern. Der Glaube als Beruhigungsmittel? Blickt man auf die Gewalttaten des »Islamischen Staates« und anderer fundamentalistischer Terrorgruppen, scheinen religiöse Überzeugungen eher ein Aufputschmittel zu sein, ein Ecstasy für selbst ernannte Gotteskrieger.
Auch die Heiligen Kriege der Geschichte, von der Antike bis zur Frühzeit des Islams, von den Kreuzzügen bis zum konfessionellen Gemetzel der Religionskriege, von den antiimperialen Befreiungskämpfen in Europa und der »Dritten Welt« bis zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, sprechen kaum dafür, dass Religion nur zum Stillhalten und Dulden animiert. Seit Jahrhunderten, ja Jahrtausenden kostet der religiöse Furor in allen Gegenden der Erde Menschenleben.
Vielleicht aber behält Marx mit seiner berühmten These dennoch recht: Denn haben sich Pulverdampf und Weihrauch erst verzogen, wird allzu oft ersichtlich, dass das Religiöse allein kaum jemals zu Krieg und Gewalt anstiftet. Verbergen sich womöglich ganz andere Interessen hinter der religiösen Fassade? Führt uns die Annahme, die Religion sei schuld, in die Irre? Lenkt sie uns davon ab, die wahren Ursachen zu erkennen - die sozialen, die ökonomischen und politischen?
Die Autorinnen und Autoren in diesem Heft - Historiker und Theologen, Muslime und Christen, Europäer und Nichteuropäer - finden auf diese Fragen äußerst unterschiedliche Antworten. Einig sind sie sich allein darin, dass die Bluttaten mittelalterlicher Kreuzritter wie heutiger Islamisten mit dem Verweis auf ein paar drastische Bibelstellen und gewaltverherrlichende Koransuren nicht hinreichend erklärt sind. Welche anderen Motive zu beachten und wie sie zu gewichten sind, darüber aber würden sie sich, an einen Tisch gebeten, wohl heftig streiten.
Wer die »reine Lehre« sucht und widerspruchsfreie Antworten, wird daher auf den folgenden Seiten kaum fündig werden. Letzte Wahrheiten zu verkünden und zu ihrer Durchsetzung aufzurufen ist etwas für religiöse Erweckungsbewegungen. Ein Aufruf will gleichwohl auch dieses Heft sein – nicht zum Kampf, sondern zur Debatte.
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