Ausgerechnet Versailles. Im Prachtpalast des »Sonnenkönigs«, unter glitzernden Kandelabern und Deckengemälden, auf denen Ludwig XIV. triumphal den Rhein überquert, wird am 18. Januar 1871 das »Hoch! Hoch! Hoch!« auf Kaiser Wilhelm geschmettert. Preußens Antwort auf zwei Jahrhunderte französischer Aggression, auf Ludwigs Reunion, Napoleons Besatzung, die Schmach von Jena und Auerstedt. Im Ruhmestempel der Grande Nation wird das Deutsche Kaiserreich geboren – tiefer könnte die Demütigung Frankreichs kaum sein.
Nach dem Ersten Weltkrieg, im Juni 1919, trifft man sich noch einmal in Versailles. Dass der Weg von Versailles nach Versailles führte, von Krieg zu Krieg, hat düstere Schatten auf das Bild des ersten deutschen Nationalstaats geworfen. Bis 1918 galt er als Zieleinlauf preußischer Geschichte – nach 1945 schmähte selbst Thomas Mann, einst Parteigänger des Wilhelminismus, das »Unheilige Deutsche Reich preußischer Nation« als Kriegstreiber. Fortan galt als verhängnisvoller Irrweg, dass ein militärmonarchischer Obrigkeitsstaat die Einheit mit »Eisen und Blut« und durch allzu großen Rabatt auf Freiheit und Parlamentarismus geschmiedet hatte. Zum 100. Jahrestag der Reichsgründung 1971 verweigerte Bundespräsident Gustav Heinemann demonstrativ die Feierlaune.
An der kühlen Distanz hat sich bis heute nichts geändert. Gewürdigt wird die Einheit vor 30 Jahren, nicht die vor 150 Jahren; wenn überhaupt, wird des Reichsgründers Bismarck mit Farbbeuteln gedacht. Dabei könnte das Urteil etwas milder ausfallen. Das Kaiserreich war nicht so rückständig und undemokratisch, wie man lange glaubte. Und es führt kein direkter Weg von Bismarck zu Hitler. Wer bereits in der Kaiserproklamation den Höllensturz erblickt, erzählt die Geschichte vom Ende her – genau wie die Mythenbastler von 1871, die in ihren nationalen Erfüllungsfantasien vergaßen, dass Preußens Gloria keineswegs der Sehnsuchtstraum aller Deutschen gewesen war. Aber Bismarcks Reich gab die wohl einzig realistische Antwort auf die schwelende »deutsche Frage«. Auch Zweifler und Kritiker verstummten vor der Gunst der Gelegenheit, kaum anders als 1990. Zu den Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Vereinigungen gehört die Macht des historischen Moments – und der Umstand, dass sie kein Bund unter Gleichen waren. In beiden Fällen ging die äußere der inneren Einheit voraus. Darin liegt die Aktualität von 1871: Um zu sehen, wie widerstreitende Traditionen zusammenwachsen, ohne sich zu verlieren, dafür lohnt ein Blick zurück auf die Gründung des Kaiserreichs – zurück in den Spiegelsaal von Versailles.
Themen im Heft:
- Der deutsche Weg
- Todesseufzer an der Maas
- Standpunkte: Sedans Schatten
- Preußens Totempfahl
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