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Leben nach dem Untergang

Ein gigantischer Tsunami begräbt am zweiten Weihnachtstag 2004 mehr als 200.000 Menschen; der Ausbruch des Vulkans Tambora verfinstert 1815 den Himmel, führt weltweit zu Missernten und Hungersnöten; die Pest rafft im Mittelalter ein Drittel der Bevölkerung Europas dahin. Katastrophen bringen Tod, Zerstörung, unermessliches Leid – und doch sind sie von einer Kraft, die Neues schaffen kann. Katastrophen gehören zu den Momenten, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Das unterscheidet sie von »Unglücken « oder »Krisen«, nach denen man bald zur Tagesordnung übergeht. Das griechische strophe bedeutet »plötzliche Wendung« – ins Tragische, aber auch in eine neue, andere Welt. Oft spornt der Schrecken die Überlebenden an, altes Denken zu entsorgen, Ursachen zu erforschen und Vorsorge zu treffen.

Das Erdbeben, das 1755 das prächtige Lissabon vernichtete, war ein solches Fanal: Es erschütterte endgültig den Glauben, Gott strafe mit Heimsuchungen dieser Art die Verderbtheit der Menschen. Warum sollte sein Zorn ausgerechnet die treuen Jünger der Inquisition treffen, die streng über den rechten Glauben wachten? An Allerheiligen, dem Tag des Bebens, wartete in Lissabon auf Juden und »Ketzer« der Scheiterhaufen. »Das wird die Menschen lehren«, schrieb Voltaire nach dem Beben, »nicht ihresgleichen zu verfolgen, denn während einige heilige Schurken einige Fanatiker verbrennen, verschlingt die Erde die einen wie die anderen.« Die Abkehr von der Idee des göttlichen Strafgerichts war die eigentliche Geburt der »Naturkatastrophe«. Fortan konnten Menschen solches Unheil erforschen und sich wappnen, ohne Gott ins Handwerk zu pfuschen.

Dieses Heft erzählt von den Schrecken und von der Erneuerungskraft der Katastrophen: vom großen Brand Roms, dem ein planvoller Wiederaufbau folgt; von der Grausamkeit der Pest, die das Ende des Mittelalters einläutet; von den menschengemachten Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, die den Glaubenseifer auf dem Schlachtfeld entlarven; von der Spanischen Grippe, die einen Ausbau des Gesundheitswesens bewirkt. Womöglich ist auch die Corona-Pandemie ein Wendepunkt. Aber in welche Richtung? Unser Heft zeigt, wie in dunklen Zeiten gesellschaftliche Solidarität schwinden – oder das Vertrauen in den Staat wachsen kann. Um einer anderen gegenwärtigen Gefahr zu entgehen, hilft es allerdings nicht, sie auszusitzen und die Folgen abzuwarten. Die Wende muss kommen – sonst wird aus dem Klimawandel die Klimakatastrophe.

 

Themen im Heft:

  • Zeitenwender: Katastrophen sind Schwellen der Menschheitsgeschichte 
  • Das nasse Grab: Vom Untergang der Insel Strand in den Sturmfluten der Nordsee
  • Eissturm oder Hitzebombe: Eine kleine Geschichte der Klimaszenarios 
  • Katastrophe im Kopf: Die biblische Idee der Apokalypse prägt unser Denken bis heute 

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